Welleszʼ Hinwendung zur Musikgeschichte

Die Opernlandschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnete sich bekanntermaßen durch einen ausgeprägten Stilpluralismus, bei dem Welleszʼ Hinwendung zur Musikgeschichte zwar keinen Einzelfall darstellt, jedoch auch nicht zu den verbreitetsten Methoden gehörte. Sein Ansatz ist weniger vom sich ausbreitenden Neoklassizismus geprägt, sondern im Wesentlichen durch seinen Doktorvater Guido Adler, bei dem er ab 1905 studierte und 1908 über die Opern Giuseppe Bonnos promovierte (Wellesz, 1910a). Durch Adlers Einfluss kam Wellesz erstmals in engeren Kontakt mit älterer Musik und insbesondere der Wiener Operngeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, mit der er sich in der Folge intensiv auseinandersetzte. Er verfasste zahlreiche Studien über die Frühgeschichte der Oper, thematisierte hierin immer wieder auch allgemeine Probleme und lieferte darüber hinaus Lösungsansätze für das zeitgenössische Musiktheater. Für Adlers Editionsreihe Denkmäler der Tonkunst in Österreich (DTÖ) edierte Wellesz 1910 Johann Josef Fux’ Festoper Costanza e Fortezza, die 1723 anlässlich der Krönung Karls VI. in Prag uraufgeführt wurde (Wellesz, 1910b). Die DTÖ spielten eine besondere Rolle für Wellesz’ Barockverständnis, da hierdurch nicht nur ein bis dahin kaum bekanntes Repertoire zugänglich gemacht, sondern darüber hinaus auch das Bild einer tendenziell separaten Wiener Operngeschichte der Barockzeit kreiert wurde. Dies soll an späterer Stelle weiter thematisiert werden.

Adlers Methodik und sein Geschichtsverständnis mit der Verknüpfung von historischen Vorbildern und moderner Realisierung spiegeln sich darüber hinaus deutlich in Welleszʼ Herangehensweise: Adler verstand unter der Moderne keine Abkehr von dem Vorhergehenden—also eine Negierung jeglicher Tradition—sondern im Gegenteil eine Weiterentwicklung des musikgeschichtlichen Erbes. Das Neue konnte dementsprechend nicht einfach aus sich selbst heraus entstehen, sondern sollte immer nur Endpunkt einer ‚organischen‘ Entwicklung sein (Rathert, 1995: 23). Adler erwartete zwar neue Inhalte, aber immer in ‚respektvoller Anknüpfung an eine … vorgezeichnete Tradition.‘ Die Moderne ist für Adler also ‚eine zeitgerechte Fortsetzung geschichtlicher Kontinuität‘ (Kalisch, 1988: 243). Insbesondere die Verknüpfung von Forschung und musikalischer Praxis, die in der Phase der institutionellen Etablierung der Musikwissenschaft meist streng getrennt wurde (vgl. Spitta, 1892), geht auf Adler zurück. Er forderte explizit die Komponisten dazu auf, ältere Musik sowie traditionelle Formen zu studieren, um sich bei ihren neuen Werken daran orientieren zu können:

Unsere ganze musikalische Entwicklung verlangt nach einer Rückschau. … Der mit der Geschichte näher Vertraute weiss sehr gut, dass z. B. das Studium der Werke der A-Kapellisten des 16. Jahrhunderts eine erwünschte Läuterung und Bereicherung der Kenntnisse moderner Komponisten bilden könnte und dass so mancher schon daraus Vorteile gezogen hat. (Adler, 1898: 33–34)

Die Rückschau in die Geschichte sollte als Fundament für moderne Komponist_innen dienen und Lösungen für musikalische Schwierigkeiten bieten. Eben diese Denkweise ist es, die Egon Wellesz für sich beanspruchte und in seiner Opernreform weiterentwickelte. Im Rahmen einer Buchrezension aus dem Jahr 1911 machte Wellesz auf die historisierenden Dynamiken seiner Zeit aufmerksam und verdeutlichte, wie er sich die Verknüpfung von Theorie und Praxis idealiter vorstellte. In der Einleitung reflektierte er über die musikhistorischen Parallelen zwischen den Anfängen des 17. und 20. Jahrhunderts:

[D]ie historische Perspektive [ist] geeignet …, Ereignisse, die wir aus der Nähe nicht recht zu beurteilen wissen, aufzuklären und in das rechte Licht zu setzen. Auch sollen sie [auf] den lebendigen Zusammenhang zwischen der Musikhistorie und dem Schaffen hinweisen: der modernen Musikhistorie … ist es zu danken, daß sich der Blick für die Vergangenheit und die Gegenwart geweitet hat. (Wellesz, 1911a: 1246)

Eine gelungene Realisierung seiner Ideen sah Wellesz beispielsweise in der 2. Klaviersuite op. 75 von Cyril Scott (1879–1970), in deren fünftem Satz eine Introduktion und Fuge mit ‚ganz modernen Mitteln‘ umgesetzt wurde. Wellesz beurteilte diese Umsetzung überaus positiv, da nichts ‚dem lebendigen Geiste der Kunst konträrer‘ sei ‚als ein Kopieren alter Stile in Äußerlichkeiten‘ (Wellesz, 1911b: 1167). Wellesz begrüßte also, dass Scott zwar auf barocke Strukturen zurückgriff und seinem Werk hierdurch einen Rahmen verlieh, diesen jedoch mit modernsten Mitteln füllte und sich sein Stück nur hierdurch als fortschrittliche Musik legitimieren konnte. Auf die gleiche Art interpretierte Wellesz die Forderungen an das Musiktheater: Innerhalb seiner Opernreform bezog er sich zwar auf die Barockepoche, allerdings ging es ihm hierbei nicht um reine Imitation, sondern vielmehr um eine Modernisierung musikhistorisch bewährter Strukturen bzw. eine Amalgamierung von traditionellen Formen und Techniken mit zeitgenössischen Mitteln. Auf diese Weise hoffte er, ein zeitloses und somit zeitüberdauerndes Kunstwerk schaffen zu können.

Für Wellesz bestand Adlers Aufforderung, sich mit alter Musik zu beschäftigen, vor allem darin, auf dem sicheren Boden der Tradition vorwärts schreiten zu können. Adler hatte es sich mit den DTÖ zum Ziel gesetzt, die Linie der ‚österreichischen‘ Komponist_innen zurückzuverfolgen, an die Wellesz anknüpfen wollte, denn seiner Ansicht nach habe Tradition für den Künstler ‚etwas Schützendes und Förderndes zugleich‘. Jedoch dürfte kein Musiker wahllos in die Geschichte greifen, sondern könne nur ‚dort weiterformen, wo ihm aus der Vergangenheit ein verwandter Rhythmus des Schaffens entgegenpulst‘ (Wellesz, 1924b). Für Wellesz selbst war dieser ‚verwandte Rhythmus‘ ausdrücklich nicht bei dem Gesamtkunstwerk Richard Wagners zu suchen, dessen Ära dagegen übersprungen und vor ihm angeknüpft werden sollte.

Abkehr von Wagner

Doch warum wandte sich Wellesz hinsichtlich der Konzeption des Gesamtkunstwerks zur Barockoper und gegen die omnipräsenten diesbezüglichen Gedanken Wagners? Dies lässt sich durch Welleszʼ Auffassung von zyklisch wiederkehrenden Phänomenen der Musikgeschichte und damit einhergehend seiner Ablehnung der Spätromantik erklären: Wagner war für ihn veraltet, die Barockoper (wieder) modern.

Wellesz begründete den Anfang des 20. Jahrhunderts bevorstehenden Umschwung durch historische Parallelprozesse, bzw. die Wiederholung bestimmter Muster. Er identifizierte sowohl zwischen dem Barock und der Wiener Klassik als auch zwischen der Spätromantik und der Moderne eine jeweils signifikante stilistische Zäsur, wodurch die beiden Übergänge für ihn musikhistorisch analoge Ereignisse darstellten [Wilfing-Albrecht, 2022: 92]. Wellesz sah im Allgemeinen stärkere Gemeinsamkeiten zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert und forderte die Überwindung der Romantik, deren Entwicklung an ihrem Endpunkt angelangt sei. Stattdessen müssten laut Wellesz ‚wieder neue Typen geschaffen werden‘, jedoch ‚ohne die Form zu sprengen‘. Dies sei ‚ein Kreislauf und wer die Geschichte seiner Kunst kennt, weiß, an welchem Punkt die Entwicklung angelangt ist, per analogiam früherer Epochen‘ (Wellesz, 1924a: 398).

Die Symptome der zur Neige gehenden Spätromantik äußerten sich für Wellesz in einer ‚Überfülle des Klanges, Überladung des Details, Übermaß von Psychologie‘ und seien markante ‚Verfallserscheinungen‘ und somit ‚Zeichen der Überreife einer Epoche‘ (Wellesz, 1924a: 393). In diese Entwicklung fiel für Wellesz auch die Oper nach Wagner, die nach einem Paradigmenwechsel verlange:

Man suchte den von Wagner gewiesenen Weg weiterzugehen, in der Erwartung, zu Neuem gelangen zu können, fand sich aber immer tiefer in eine Abhängigkeit verstrickt, die nicht zu überwinden war, und auf jeder Schöpfung lastete der Schatten seiner großen Persönlichkeit. Denn der große Trugschluß, dem Generationen junger, befähigter Musiker zum Opfer fielen, bestand in der von Wagner selbst durch seine theoretischen Schriften geförderten Annahme, man stehe am Anfang einer Entwicklung, während sein Werk, wie wir jetzt rückschauend zu erkennen vermögen, in den Abschluß einer Periode der Musik fällt, in der die Oper nur eine Teilerscheinung bildet. (Wellesz, 1922: 8)

Wellesz darf jedoch keinesfalls als Anti-Wagnerianer missverstanden werden: Er schätzte dessen Werke sehr und platzierte ihn gemeinsam mit Monteverdi und Gluck in sein ‚Pantheon‘ der Opernkomponisten (Symons, 1996: 62). Ebenso würdigte er Wagners Umsetzung des Gesamtkunstwerkes und schrieb, dass man ‚dank der Tat Richard Wagners … wieder ein Gefühl für das Bühnenfestspiel‘ entwickelt habe, in dem ‚Dichtung, Musik und Dekoration zusammenwirken müssen, um ein Gesamtkunstwerk zu ergeben, das Musikdrama‘ (Wellesz, 1914a: 191). Für Wellesz wurde vielmehr der übermächtige Anspruch der Wagner’schen Theorien ‚vielen Komponisten zum Verhängnis‘, die ihm nacheifern wollten (Wellesz, 1916: 97). Die Ursache für das Scheitern der Epigonen, die Wagner’schen Prinzipien adäquat weiterzuführen, lag laut Wellesz in der falschen Priorisierung der Elemente: Die Komponist_innen entwickelten seiner Meinung nach nicht zwangsläufig die förderungswürdigen Eigenschaften der Musikdramen in ihren eigenen Opern weiter, sondern die tendenziell ‚minderwertigen‘, die sie adaptiert und auf die Spitze getrieben hätten (vgl. Wellesz, 1912: 520; Wellesz, 1950: 110). Wellesz konstatierte bei der Oper nach Wagner folglich, dass das Gesamtkunstwerk ein Gleichgewicht der einzelnen Elemente vermissen lasse, worunter insbesondere die Übermacht des Orchesters eine negative Tendenz aufweise:

Das Grundübel, an dem die neuere Produktion krankt, scheint mir in der Hypertrophie des Orchesters zuungunsten der Szene zu liegen. Die übermäßige Ausbildung des Orchesters, seines Klanges und seiner Färbigkeit hat die Komponisten dazu verführt, Sinfonien mit obligaten Singstimmen zu schreiben. Dies hat nicht nur zur Folge, daß sich der Gesang mit dem Schwall des Orchesters in ständigem Kampfe befindet, sondern auch, daß die ganze Haltung der Musik trotz ihrer leidenschaftlichen Sprache mehr episch als dramatisch ist. (Wellesz, 1925: 65)

Aber nicht nur die Übermacht, sondern auch die Funktion des Orchesters, das bei Wagner die Rolle des Chores in der antiken Tragödie übernimmt, hätte laut Wellesz im 20. Jahrhundert nicht fortgeführt werden dürfen. Wagner wollte den Sängerchor eliminieren, da er für ihn ‚nichts Anderes, als die zum Gehen und Singen gebrachte Dekorationsmaschinerie des Theaters‘ gewesen sei (Wagner, 1852: 100). Allerdings wurde hierdurch die kommentierende und interpretierende Aufgabe nun dem Orchester überantwortet, das die Aktionen der Protagonist_innen reflektieren und erläutern sollte (Wagner, 1852: 174–175). Dadurch, dass nun gewisse Interpretationen und inhaltliche Zusammenhänge durch das Orchester geschildert wurden, ergab sich für das Publikum in Wellesz’ Augen jedoch die Problematik, dass dieses nun für das Verständnis einer Szene seine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf zwei verschiedene Ebenen richten musste: sowohl auf die Bühne als auch auf das Orchester (Wellesz, 1925: 66–67). Der Auftritt von Siegfried und Mime (Siegfried, I. Aufzug), bei dem ‚das Orchester die scheinbare Gutmütigkeit Mimes ausdrückt, während er das singt, was er in Wirklichkeit nur denkt‘, sei hierfür ein frappantes—aber dennoch bei Wagner funktionierendes—Beispiel (Wellesz, 1925: 66).

Während Wagner diese Szene allerdings ausdrücklich in ‚genialster Weise‘ umgesetzt habe (Wellesz, 1925: 66), waren dagegen für Wellesz alle Nachahmer dieser Technik daran gescheitert. Die Herrschaft des Orchesters mit seiner ‚Rolle eines psychologisierenden Raisonneurs‘ wurde derart auf die Spitze getrieben, dass das Durcheinander von Motiv-Konstruktionen und Verbindungen geradezu eine ‚Zumutung‘ für das Publikum sei (Wellesz, 1926c: 112). Die Komponisten, so Wellesz, hätten sich darüber hinaus mit der unverhältnismäßigen Ausschmückung von unnötigen Details aufgehalten, sich zu stark auf einzelne Szenen oder gar nur Phrasen und Wörter konzentriert, und dadurch die Zusammenhänge und die Gesamtstruktur des Werks aus den Augen verloren (Wellesz, 1925: 66–67).

All jene ‚Schwachpunkte‘, die Wellesz für das Wagner’sche Gesamtkunstwerk identifizierte und die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in neuen Bühnenwerken intensivierten, gehören zu jenen Elementen, die Wellesz in seinen eigenen Werken zu vermeiden suchte. Für ihn waren sie allesamt Symptome für ein Missverhältnis zwischen Orchester und Bühne und allein das Gesamtkunstwerk der Barockoper sei aufgrund seiner festen Struktur geeignet, dem Zusammenspiel der Elemente wieder in die richtige Balance zu verhelfen. Hier sei ‚das Verhältnis von Dichtung, Musik und Scene auf das Glücklichste gelöst und der Typus der Barockoper geeignet, der neuen Oper zum Vorbild zu dienen‘ (Wellesz, n. D.a: 5).

Der ‚Österreichische Barock‘ und das Gesamtkunstwerk als Teil der Reform

Welleszʼ Kritik am zeitgenössischen Musiktheater zeigt also, dass seine Opernreform nicht auf den nachwagnerschen Stil aufbauen konnte. Stattdessen müsse die ‚Oper der Zukunft … an die Tradition der Barockoper anknüpfen, oder besser gesagt dort wieder beginnen, wo Gluck geendet hat und diesen Weg um all die Erfahrungen der letzten hundertfünfzig Jahre bereichert, weitergehen‘ (Wellesz, n. D.a: 5). Bei der näheren Beschäftigung mit Welleszʼ Opernreform zeigt sich die Problematik, dass bezüglich der historischen Vorbilder häufig nur vage auf die allgemeine Barockoper mit nur wenig konkret benannten Werken verwiesen wird. So heißt es beispielsweise in Welleszʼ Dissertation über Bonno noch stark verallgemeinernd, dass ‚[d]ie Oper und das Oratorium … für den Komponisten der Barocke „Gesamtkunstwerk“‘ waren (Wellesz, 1910a: 436).

Es kristallisiert sich jedoch in Welleszʼ zahlreichen Äußerungen heraus, dass er im Speziellen eine Fortführung bzw. ein Wiederaufgreifen der österreichischen Operntradition intendierte, die bereits Guido Adler nachweisen wollte (Fritz-Hilscher, 2015: 40). Adlers Intention bei der Konstituierung seiner DTÖ-Reihe bestand zwar darin, ausschließlich im weitesten Sinne österreichische Werke herauszugeben, hierunter verstand er allerdings alle Kompositionen, die in einer Relation zu Österreich bzw. den verschiedenen Adelshöfen standen, unabhängig von der Herkunft der Komponisten oder auch dem Aufführungsort. Demzufolge wurden zahlreiche Kompositionen auch von beispielsweise italienischen Komponisten wie Antonio Draghi, Orazio Benevoli oder auch Antonio Cesti aufgenommen, die (zeitweise) an österreichischen Höfen wirkten (Hilscher, 1995: 244–246). Diese Ausformung einer eigenständigen nationalen Musikgeschichte und im Speziellen einer Operntradition prägte maßgeblich Welleszʼ Verständnis, der aus diesem Grund Termini wie ‚Wiener‘ bzw. ‚Österreichischer Barock‘ einführte (vgl. Wellesz, 1913: 9).

Diese Epoche begann für Wellesz etwa Mitte des 17. Jahrhunderts und mündete in Glucks Schaffen zum Ende des 18. Jahrhunderts. In seiner Edition der Costanza e Fortezza findet sich der aussagekräftige Satz, dass diese Oper einen ‚Markstein auf dem Wege der Wiener Oper, der vom „Pomo d’oro“ zum „Orfeo“ von Gluck‘ darstelle (Wellesz, 1910b: XXV), womit die für Wellesz bedeutendsten Werke der Zeit herausgehoben werden. Eben dieser Umstand ist für seine proklamierten Vorbilder zu beachten, da Wellesz sich eben nicht auf die ‚Durchschnittsopern‘ der Zeit mit ihren allgemeinen Charakteristiken bezieht, sondern auf herausragende Einzelwerke, die dem Typus der Festoper sowie des barocken Gesamtkunstwerks entsprechen und im Fall von Cesti und Fux zu den außergewöhnlichsten und prunkvollsten Bühnenwerken ihrer Epoche gehörten.

Wellesz lernte Cestis Festoper Il Pomo d’oro (1668) durch die DTÖ-Ausgabe kennen, die Guido Adler 1896/1897 herausgegeben hatte, der dem Werk hier bereits eine zeitüberdauernde Bedeutung für die Musikgeschichte attestierte (Adler, 1896: V). Wellesz widmete der Oper später u. a. die bereits zitierte ausführliche Einzelstudie (Wellesz, 1914a) und schätzte das Werk darüber hinaus als den ‚vollkommensten Typus einer frühbarocken Festoper‘ ein (Wellesz, 1922: 61). Il Pomo d’oro wurde zur Vermählung von Kaiser Leopold I. mit Margarita Teresa 1666 in Auftrag gegeben, konnte jedoch aufgrund der aufwändigen Vorbereitungen (so wurde u. a. eigens ein neues Opernhaus errichtet) erst 1668 aufgeführt werden. Die Ausmaße der Festoper, die um die 300.000 Gulden gekostet haben soll, übertraf alles Dagewesene: Im Pomo d’oro gab es 23 verschiedene Bühnenbilder, unzählige szenische Effekte mit aufwändigen Flug- und Bühnenmaschinerien, außerdem drei Ballette von Heinrich Schmelzer, von denen das Schlussballett ganze acht Tänze umfasst. Bereits während der Arbeit daran schätzte Cesti die Länge seines fünfaktigen Werkes auf ca. zehn Stunden, sodass es letztlich auf zwei Abende aufgeteilt werden musste. Für alle Aufgaben wurden die profiliertesten Künstler engagiert: Den Text lieferte Francesco Sbarra, Ludovico Burnacini war neben dem Opernhaus auch für das Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich, Santo Ventura choreographierte die Tänze und Agostino Santini die Kampfszenen der kaiserlichen Fechtmeister (Seifert, 1988: 37–40).

Fux’ Costanza e Fortezza stellte für Wellesz den zweiten Meilenstein aus der Hochblüte der barocken Wiener Festoper dar, doch auch dieses Werk kann nicht als durchschnittliches Beispiel der zeitgenössischen Opernproduktion verstanden werden. Die Aufführung der dreiaktigen Festa teatrale 1723 anlässlich der Krönung Karls VI. in Prag soll die prunkvollste und teuerste seit dem Pomo d’oro gewesen sein. Auch hier wurden wieder die bekanntesten Künstler engagiert: So lieferte Pietro Pariati das Libretto, die Ballettmusiken stammten von Nicola Matteis d. J., und Giuseppe Galli-Bibiena kümmerte sich nicht nur um das Bühnenbild, sondern musste eigens für die Feierlichkeit ein neues Amphitheater auf dem Hradschin errichten, in dem angeblich bis zu 4000 Zuschauer_innen Platz fanden (Hilmera, 1964: 396). Wellesz berichtet in seiner Edition ausführlich über die zahlreichen Beteiligten bei der Entstehung des Werkes, die Bühne und die riesigen Dimensionen der Aufführungsstätte, und unterstreicht die Bedeutung für die österreichische Operngeschichte (Wellesz 1910b: VII–XXV).

Wellesz’ Ideal des Gesamtkunstwerks der barocken Festoper bestand folglich nicht nur aus einem Zusammenspiel der Künste—mit ggf. dem Komponisten, der in Personalunion alle Bereiche des Werkes überblickte—sondern auch der Künstler. Musiker wie Cesti und Fux, Librettisten wie Sbarra und Pariati, Bühnenbildner wie Bononcini oder Galli-Bibiena u. v. m. kamen zusammen, um gemeinsam ein einheitliches Bühnenwerk zu schaffen. Dieses solle dadurch nicht als kurzlebiges Gelegenheitswerk schnell in Vergessenheit geraten, sondern sich zu einem die Zeit überdauernden Denkmal entwickeln (so wie es Pomo d’oro und Costanza e Fortezza sinnbildlich in den Denkmälern der Tonkunst in Österreich geworden sind). Es handelt sich also mehr um eine Herangehensweise oder eine übergeordnete Struktur statt um eine konkrete musikalische Technik. Es geht nicht um musikalische Formen oder Figuren, Instrumentation oder harmonische Strukturen, sondern darum, dass bei jedem Element des Bühnenwerkes für sich nach höchster Vollkommenheit gestrebt werden soll und durch ihr Zusammenwirken Erhöhung erlangt werden sollen.

Mit dieser ‚Formel‘ lässt sich—wie von Wellesz gefordert—auch der musikalische Inhalt des Werkes problemlos mit zeitgenössischen Kompositionstechniken verwirklichen. Er versuchte dieser Idee in seinen Bühnenwerken nachzueifern, in denen er ebenfalls eine Aufteilung der Ressorts mit gleichzeitiger enger Zusammenarbeit der einzelnen Künstler_innen, vor allem mit Literat_innen, Tänzer_innen/Choreograph_innen, Bühnenbildner_innen und Regisseur_innen intendierte, um das Gleichgewicht zwischen allen Teilen des Werks herzustellen und ein einheitliches Gesamtwerk zu schaffen. So schrieb er 1947 über seine eigene Oper: ‚In „Alkestis“ versuchte ich die Form der Wiener Barockoper, die in Gluck ihren Höhepunkt erreicht hatte, wieder zu beleben. Gesang, Chor, Ballett und Orchester sollten gleichberechtigte Faktoren sein‘ (Wellesz, 1947: 370).

Neben den beiden Festopern ist der wichtigste Einfluss auf Wellesz in den Reformopern Glucks—und darunter vor allem in Alceste (1767/1776)—zu sehen. Gluck bildete für Wellesz nicht nur die Schnittstelle zwischen Barock und Klassik (zumindest auf dem Gebiet der Oper), sondern auch den Anknüpfungspunkt für die Moderne. Darüber hinaus war er im Allgemeinen ‚Fix- und Anknüpfungspunkt‘ in Welleszʼ Beschäftigung mit der Oper, da dieser zahlreiche Parallelen zu seinem eigenen Schaffen sah (Schneider, 1981: 91), insbesondere in der Ausarbeitung einer Opernreform. Zu Beginn der 1920er-Jahre schrieb Wellesz, dass allen Komponist_innen und Verantwortlichen gleichermaßen klar sei, ‚daß die Oper einer Reform bedarf‘, um weiter existieren zu können (Wellesz, 1925: 65), und zog die Berechtigung für diese Aussage aus der Tradition der in der Musikgeschichte stetig wiederkehrenden Reformversuche. Einige Aspekte, die er in allen Erneuerungsversuchen—und somit auch bei Gluck—entdeckte, verstand er somit als Grundbestandteil jeder (erfolgreichen) Reform.

Besonders relevant erscheint in diesem Zusammenhang Welleszʼ Auseinandersetzung mit Francesco Algarottis Saggio sopra l’opera in musica (1755), das als eine der einflussreichsten Schriften zur Opernästhetik des 18. Jahrhunderts zahlreiche nachfolgende Reformer beeinflusste bzw. Ideen vorwegnahm, u. a. auch jene Glucks (Jacobshagen, 2001: 75, 83). Algarotti forderte in seinem Saggio mit Nachdruck vor allem eine neue Einheitlichkeit durch die Zusammenführung der einzelnen Künste, die es schon in den ersten Opern gegeben habe:

Niuna cosa nella formazione di essa fu lasciata indietro, niuno ingrediente, niun mezzo, onde arrivar si potesse al proposito fine. E ben si può asserire, che quanto di più attrattivo ha la Poesia, quanto ha la Musica, e la Mimica, l’arte del Ballo, e la Pittura, tutto si collega nell’Opera felicemente insieme ad allettare i sentimenti, ad ammaliare il cuore, e fare un dolce inganno alla mente.

Als man sie [die Oper] erfand, unterließ man nichts, wodurch man seinen Zweck erhalten konnte; und man kann mit Grunde behaupten, daß alles, was Poesie, Musik, Pantomime, Tanz und Mahlerey reizendes hat, sich in der Oper gluecklich vereinige, die Sinne zu reizen, das Herz zu bezaubern und eine angenehme Taeuschung hervorzubringen. (Algarotti, 2017: 246–247)

Auch Gluck geht im berühmten Vorwort zu seiner 1769 gedruckten Alceste zunächst von einem aus der Balance geratenen Verhältnis zwischen den Künsten—vor allem Musik und Text—aus, und spricht davon, dass an der Reform der Oper ‚tutte le arti belle‘ (‚alle schönen Künste‘) Anteil haben, die zur Einheit des Werkes beitragen. Für eine Rückkehr zur ‚bella semplicità‘ (‚schönen Einfachheit‘) in der Oper, müsste man sich wieder am dramaturgischen Aufbau orientieren und dürfe diese nicht durch unnötige Verzierungen (durch Orchester oder Sänger_innen) unterbrechen. Da Capo, Solokadenzen, Orchesterritornelle, d. h. retardierende Momente aller Art müssten abgeschafft werden, um die höchsten Ziele—neben der Klarheit auch ‚verità‘ (‚Wahrheit‘) und ‚naturalezza‘ (‚Natürlichkeit‘)—erreichen zu können (Einstein, 1987: 115; vgl. Jacobshagen, 2018: 88–89).

Wellesz war sich nicht nur der Bedeutung Glucks, sondern auch jener Algarottis sowohl für die Oper des 18. Jahrhunderts als auch für seine eigene Reform durchaus bewusst und widmete letzterem eine Einzelstudie. Hierin sah sich Wellesz auch in seinen eigenen Forderungen bestätigt, da er allgemeingültige Thesen zu erkennen vermeinte, die sich mit den seinen deckten. So kritisierte Algarotti u. a. die Vertonung historischer Stoffe, die überladenen Melodien, die Missachtung des Librettos und das Nichteinbeziehen des Balletts in die Handlung. Stattdessen sollten nicht nur Musik, Text und Tanz, sondern auch beispielsweise Dekoration, Bühnenbild und Kostüme ihren Teil zur Einheit des Werks beitragen (Wellesz, 1914b: 435–438). Wellesz resümierte, dass ‚Algarotti nach heutigen Ansichten durchaus natürliche Dinge fordert, die aber zu seiner Zeit noch keine Selbstverständlichkeit waren‘ (Wellesz, 1914b: 439) und betonte: ‚Wir sehen hier wieder die Forderung des Gesamtkunstwerkes, die zu allen Epochen auftaucht, wo sich eine Reform der Oper ankündigt‘ (Wellesz, 1914b: 435).

Wellesz identifizierte also als historische Gemeinsamkeit vor allem das Konzept des Gesamtkunstwerks, das in allen Opernreformen der Musikgeschichte wiederzufinden sei, natürlich jeweils mitsamt der in jeder Epoche auftretenden stilistischen Modifikationen in der Realisierung. Die Behandlung der darin eingebundenen Elemente, die das Gesamtkunstwerk erst bedingen, müsste folglich eine Allgemeingültigkeit besitzen und sich daher auch in zukünftigen Reformen als Richtschnur legitimieren. Wellesz sah sich somit auf Grundlage seiner historischen Forschungen darin bestätigt, dass nur das Modell des Gesamtkunstwerks mit all seinen Voraussetzungen der Schlüssel zu einer grundsätzlichen Erneuerung der Oper im 20. Jahrhundert sei, und dieses demzufolge in seinen eigenen Reformversuchen Anwendung finden müsse.

Das Gesamtkunstwerk bei Wellesz

Die Vorgehensweise, die Wellesz bei der Realisierung dieses Konzepts in seinen eigenen Opern an den Tag legte, soll im Folgenden paradigmatisch anhand einiger punktuell ausgewählter Beispiele illustriert werden, die einen Eindruck seiner Methodik vermitteln. Da Wellesz den Ausgangspunkt bei allen Umbrüchen in der Operngeschichte im problematischen Verhältnis zwischen Text und Musik erkannte, musste demzufolge auch seine Opernreform zunächst beim Libretto ansetzen, um eine Wiederherstellung der Balance zu erlangen (Wellesz, 1919a: 10). Seinen Ansprüchen an das Gesamtkunstwerk zufolge, sollte bei der Wahl des Textbuchs nicht nur auf die allgemeine literarische Qualität geachtet werden, sondern möglichst auch ein enger Austausch mit dem Dichter gewährleistet sein.

Wellesz’ Vorbilder aus der Historie haben sich seiner Ansicht nach zumeist um diese Kriterien bemüht: Cestis Il Pomo d’oro sowie Fux’ Costanza e Fortezza seien nicht nur aufgrund der Musik von Zeitgenossen bewundert worden, sondern auch wegen ‚der Wahl und Ausarbeitung des Librettos‘ (Wellesz, 1910b: VII). Der Text des Pomo d’oro von Sbarra genügte allerdings nicht zur Gänze Welleszʼ Ansprüchen: Er befand, dass das Textbuch einen ‚Mangel an dramatischer Geschlossenheit‘ zeige (Wellesz, 1914a: 217), und auch Guido Adler hatte bereits die Handlung beanstandet, die ‚zusammengeschweisst, aneinandergeleimt, zu einer bunten Folge vereinigt, ohne inneren seelischen Zusammenhang‘ sei (Adler, 1896: XIV). Stimmiger sei laut Wellesz dagegen das Textbuch zu Costanza e Fortezza von Pietro Pariati gewesen, dem der Verdienst gebühre, ‚die Sprache von unnötigem Schwulst gereinigt und die Liebesverhältnisse organisch mit dem Gang der Handlung verknüpft zu haben‘ (Wellesz, 1910b: XIII).

Vorbildhaft war für Wellesz aber vor allem Glucks Zusammenarbeit mit ‚dem genialen Raniero Calzabigi‘ (Wellesz, n. D.b: 5), der die Textbücher für u. a. die großen Reformopern Orfeo ed Euridice, Alceste und Paride ed Elena verfasst hat. Einen bemerkenswerten Vorteil sah Wellesz hier im Entstehungsprozess der Werke, da es seiner Meinung nach äußerst dienlich gewesen sei, dass Calzabigi und Gluck nicht separat voneinander arbeiteten—also Gluck nicht einfach ein bereits fertiggestelltes Textbuch vertonte—sondern beide sich währenddessen stetig austauschten, ‚sodass Gluck den Rhythmus des deklamierten Wortes von dem Dichter selbst vorgetragen, erfassen, und in seine Sprache, die Musik, übertragen konnte‘ (Wellesz, n. D.b: 5). In der Allianz zwischen Gluck und Calzabigi zog Wellesz vor allem eine direkte Parallele zur zeitgenössischen Opernproduktion: Er erkannte nicht nur eine ‚gewisse Wahlverwandtschaft zwischen Gluck und Richard Strauss‘ (Wellesz, n. D.b: 3), sondern interpretierte die Zusammenarbeit von Strauss und Hugo von Hofmannsthal quasi als Wiederkehr der Partnerschaft von Gluck und Calzabigi, in welcher der ‚barocke Geist‘ auferstanden sei (vgl. Wellesz, 1940: 479). Besonders im Wirken Hofmannsthals sah Wellesz einen Künstler mit starker Affinität zur barocken Festoper, der die nach Gluck gekappte Traditionslinie wieder aufnehmen könnte.

Im Konzept der Festoper bzw. des Festspiels—das nicht nur bei Wagner eng mit der Idee des Gesamtkunstwerks verwoben ist—sahen Wellesz und Hofmannsthal ein Mittel, die österreichische Tradition mit modernen Mitteln fortleben zu lassen. Insbesondere nach Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, der für beide eine einschneidende Identitätskrise zur Folge hatte, fand Hofmannsthal im Festspiel ein ‚Refugium‘ (Schneider 2016: 125f.), das er vor allem bei den Salzburger Festspielen realisieren konnte. Wellesz erkannte hierbei insbesondere in den Mysterienspielen Jedermann und Das Salzburger Große Welttheater ein Wiederaufleben der barocken Festspielatmosphäre und bewertete die Zusammenarbeit von Hofmannsthal mit u. a. Strauss, Max Reinhardt, Alfred Roller (der für Welleszʼ Bühnenkonzept eine ebenso bedeutende Rolle einnahm und auch die Bühnenbilder für die Uraufführung der Bakchantinnen an der Wiener Staatsoper beisteuerte) als vollendete Umsetzung des Festspielgedankens (Wellesz, 1919b: 6).

Es verwundert daher nicht, dass Wellesz Hofmannsthal als Personifizierung des idealen Librettisten und Vertreter des Gesamtkunstwerkgedankens ansah, da dieser seiner Ansicht nach sowohl eine künstlerische Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellen könne (Wellesz, 1937: 8) als auch eine komplementäre Verbindung der verschiedenen Elemente zu einer straffen Einheit einforderte, mit dem Ziel einer möglichst lebendigen Aufführung:

Ein Werk ist ein Ganzes und auch zweier Menschen Werk kann ein Ganzes werden. … Die Musik soll nicht vom Text gerissen werden, das Wort nicht vom belebten Bild. Für die Bühne ist dies gemacht. Nicht für das Buch oder für den Einzelnen an seinem Klavier. (Hofmannsthal 1986: 547)

Wellesz lernte Hofmannsthals Werke bereits zu seiner Schulzeit kennen und nachdem die beiden Männer sich 1918 kennenlernten, avancierte Hofmannsthal in sämtlichen Operntheater-Fragen zu seinem bedeutendsten Ratgeber. Die erste Zusammenarbeit der beiden kam kurz darauf zustande, als Wellesz Hofmannsthals Ballettszenar Achilles auf Skyros op. 31 vertonte (1921, UA 1926), woraufhin er den Plan fasste, auch Operntexte Hofmannsthals in Musik zu setzen. Er bearbeitete daraufhin selbst dessen Drama Alkestis (1894/94), da Hofmannsthal keine Zeit dafür aufbringen konnte, jedoch mit Anregungen involviert war. Er skizzierte die Umarbeitung der ersten Szene (Wellesz, 1949: 229), und begutachtete im Anschluss das fertige Libretto (Schneider, 1981: 110). Auch Die Bakchantinnen basiert auf einer Vorlage Hofmannsthals, der Wellesz ermutigte, ein Textbuch aus seinem Dramenfragment Die Bacchen bzw. Pentheus (1892–1918) anzufertigen. Hofmannsthal konnte auch dieses Libretto nicht eigenhändig einrichten, sondern überließ Wellesz gänzlich die dichterische Bearbeitung. Laut Emmy Wellesz habe Hofmannsthal den fertigen Text noch kurz vor seinem Tod 1929 gelesen und Wellesz zur Vertonung animiert (Schneider, 1981: 110).

Beide Werke von Hofmannsthal basieren auf Dramen des Euripides, die auch Wellesz teils bei der Bearbeitung der Libretti als Vorlage verwendete. Die Hinwendung zur Antike empfand Wellesz nicht nur als eine stark verbindende Gemeinsamkeit zu Hofmannsthal, sondern auch als Grundvoraussetzung für das Libretto einer Reformoper. Er griff in mehreren Werken und vor allem den Reformopern auf Texte des griechischen Sagenkreises zurück, da er es aufgrund seiner Beschäftigung mit der Musikgeschichte quasi als Gesetz begriff, im Zuge einer Opernreform zuerst auf Stoffe der griechischen Mythologie zu rekurrieren (Wellesz, n. D.a: 3), so wie es im Übrigen auch Calzabigi getan hatte (Wellesz, n. D.b: 5). Es ist kein Zufall, dass Wellesz mit seiner Alkestis auf die gleiche Vorlage zurückgriff wie Calzabigi für Glucks Alceste, denn er sah hierin mit der ‚Loslösung von jeglichem Detail‘ und dem ‚Verzicht auf jegliches Requisit‘ einen idealen Stoff für eine Reformoper (Wellesz, 1924c: 69). Allerdings verwendete Wellesz weder Euripides’ Vorlagen noch eine der verschiedenen Bearbeitungen aus der Barockepoche, sondern verlangte einen modernisierten Blick auf die Erzählungen, d. h. durch die Augen Hofmannsthals gesehen. Dessen Werk ist stark von antiken Stoffen geprägt, die wiederum eng mit den Inszenierungen Max Reinhardts verknüpft sind. So markiert Hofmannsthals Durchbruch mit Elektra (1903) den Beginn seiner Zusammenarbeit mit Reinhardt, der u. a. noch bei den richtungsweisenden Aufführungen von Ödipus und die Sphinx (UA 1906) und König Ödipus (UA 1910) Regie führte. In diesen Werken wollten beide den starren akademischen Umgang mit den Stoffen überwinden und ‚den Schauer des Mythos neu erschaffen‘, wie es in der Vertheidigung der Elektra (1903) heißt. Hofmannsthal plädierte hier für die Modernisierung der Stoffe: ‚Wenn Philologen[,] Althertumskenner etc. für die unbedingte Erhaltung des Alten sorgen, so muss auch eine Instanz da sein, die unbedingt für das Lebendige sorgt.‘ (Hofmannsthal, 2009: 222) Auch die Zusammenarbeit mit Strauss, der in Hofmannsthals Elektra die ‚dramatische […] Koalition von mythischer Archaik und moderner Avantgarde‘ erkannte (Eder 2016a: 62), zeigt eine ähnliche Herangehensweise an die Vorlagen, Hofmannsthal intendierte also stets, seiner Generation gerecht zu werden und verband verschiedenste Einflüsse in einem geradezu ‚ungezwungenen Verhältnis‘ zwischen Antike und Moderne (Eder, 2016b: 96). In Hofmannsthal sah Wellesz somit einen Dichter, der wie alle großen Dramatiker, die die Antike wiederaufleben lassen wollten, die Stoffe als Amalgam aus Antike und Moderne für die eigene Generation erneuerte. Und gerade Hofmannsthals Alkestis stellte sich als ‚Markstein‘ für eine ‚zeitgemäße dichterische Aneignung und Erneuerung des Mythos‘ heraus (Eder 2016c: 191), bei der Hofmannsthal nach eigenen Worten den ‚Vorversuch antikmythisches neu zu gestalten‘ verfolgte (Hofmannsthal 1997: 253).

Der Bewegungschor

Als markantes Beispiel für die Verwendung historischer Vorbilder in modernem Gewand kann die Behandlung des Bewegungschores in Wellesz’ Opern dienen. Hofmannsthals intensive Beschäftigung mit dem zeitgenössischen Tanz (z. B. in den Aufsätzen ‚Die unvergleichliche Tänzerin‘ [1906] und ‚Über die Pantomime‘ [1911]) stellte die Grundlage für Welleszʼ Ansatz dar, wovon auch die erste gemeinsame Arbeit am Ballett Achilles auf Skyros zeugt. Durch gemeinsame Gespräche kam Wellesz zu der Überzeugung, dass ‚Tanz und Ballett das geeignete Medium seien, die Fesseln der nachromantischen Oper abzustreifen‘ (Wellesz, 1961: 29), also auch einen essentiellen Bestandteil seines Gesamtkunstwerkkonzeptes verkörperte. Der Tanz hatte in Welleszʼ Bühnenwerken demzufolge eine bedeutende dramaturgische Funktion inne und wurde hauptsächlich nach den Opern Glucks modelliert, weist jedoch auch vielfältige zeitgenössische Einflüsse auf. Zwar beinhalteten auch Il Pomo d’oro und Costanza e Fortezza aufwändige Tanzeinlagen und Zwischenaktballette, diese fungierten jedoch als völlig separate Elemente. Wellesz forderte jedoch—ebenso wie Algarotti und Gluck—eine Integrierung des Tanzes in die Handlung und fand sein Vorbild in Glucks Mitstreiter Jean Georges Noverre, den er auch explizit als Vertreter des Gesamtkunstwerks bezeichnete (Wellesz, 1926a: 161). Dieser verlangte neben passender Kostümierung und Szenerie ebenfalls eine sinnvolle Einbeziehung des Tanzes in den Ablauf der Handlung, und monierte im Allgemeinen bei den zeitgenössischen Produktionen die unzureichende Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Beteiligten (Dahms, 2010: 125–126). Diesem Ideal einer ‚kongenialen Zusammenarbeit‘ der einzelnen Künstler kam er in Wien besonders nah (Dahms, 2010: 131).

Als Beispiel nennt Wellesz Noverres Bericht über dessen Arbeit mit Gluck am Skythentanz aus Iphigenie en Tauride. Hier habe Noverre Gluck zunächst die Bewegungen vorgeführt, wonach Gluck die Szene erst in Musik setzte. Auf eben diese Weise hat Wellesz u. a. seine Tänze für Die Opferung des Gefangenen gestaltet: Noch vor der Niederschrift der Komposition habe Wellesz mit dem Tänzer Kurt Jooss den Stoff besprochen, der ihm daraufhin den ‚Charakter der einzelnen szenischen Situationen‘ mit den entsprechenden Bewegungen vorführte (Wellesz, 1926b: 12). Wellesz sah bei diesen Aspekten jedoch nicht einfach nur allgemeine Parallelen zu Noverres Schaffen, sondern ließ sich durch ihn für sehr konkrete Lösungen in seinen Opern inspirieren. Über die Proben zur Alceste (1767) berichtete Wellesz in einer Studie, dass für den Chor, der einen entscheidenden Part in der Handlung innehatte, nicht genügend Sänger zur Verfügung standen. Die Choristen, die man aus St. Stephan als Verstärkung holte, hatten jedoch keinerlei Erfahrung auf einer Theaterbühne und waren entsprechend ‚völlig steif in der Bewegung‘. Nachdem auch Noverre kein Leben in die Darsteller bringen konnte, schlug er dem mittlerweile verzweifelten Gluck vor, die bühnenuntauglichen Sänger allesamt hinter die Kulissen zu verbannen und gleichzeitig Mitglieder des Balletts die Handlungen auf der Bühne ausführen zu lassen (Wellesz, 1926a: 159–160). Dieser Bewegungschor wurde in der Folge in verschiedenen Formen von zahlreichen Choreographen im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen, und auch Wellesz setzte ihn in seinen Opern ein, darunter vor allem in den Bakchantinnen und der Alkestis.

Bei der Uraufführung der Alkestis 1924 in Mannheim sah Wellesz ein Problem in der Umsetzung, da das Stück mit seiner ‚eigenartigen Verbindung von Zeremonie und Tanz mit dem Geschehen auf der Bühne‘ eine ausgeprägte darstellerische Leistung voraussetzte, die nur schlecht mit den konventionellen Mitteln bewältigt werden konnte. Hierfür habe der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhardt die passenden Lösungen gefunden, wie sich Wellesz erinnert:

Wir wußten, dass der übliche Opernchor zwar gut singen, aber nicht zu agieren vermochte. Deshalb kam Niedecken auf den Gedanken, aus den Tänzerschulen der Stadt die besten Kräfte auszuwählen und unter den Chor zu mischen. Die Neuheit wirkte zuerst befremdend und verwirrend. Im Laufe der Proben fügten sich die jungen Leute, Mädchen und Burschen aber erstaunlich gut in das Gefüge ein, und die Aufführung gewann so viel Leben, dass diese neue Art der Regie viel Erwähnung fand; man sprach von ‚Bewegungschören‘, die ihre Funktion in gleicher Weise hatten wie die Gesangschöre. (Wellesz, n. D.c: 17)

Hier hatte Wellesz darauf bestanden, keine ‚ungeschulten Statisten‘ oder Tänzer_innen, die ‚nicht im Sinne der neuen Tanzkunst herangebildet‘ waren, einzusetzen. Stattdessen wurden Darsteller_innen aus Tanzschulen und Turnverbänden engagiert und bei den großen Bewegungschor-Szenen integriert (Wellesz, 1924c: 68). Die Unsicherheit angesichts der mangelnden Bühnenerfahrung der jungen Tänzer_innen zerschlug sich bald, als sich zeigte, dass alle Darsteller_innen mit Eifer bei der Sache waren und sich gerade durch die veränderte Gruppendynamik ein noch stärkerer Ausdruck ergab: ‚Der Bewegungschor arbeitete, gerade weil jeder einzelne bestrebt war, das Äußerste zu geben, mit jener Intensität, die oft stärkere Wirkung zu erzielen vermag als talentierteste Routine‘ (Wellesz, 1924c: 68). Dass die Parallele—wenn auch nicht vollständig idente Umsetzung—zu Gluck und Noverre kein Zufall war, dürfte auch dadurch belegt sein, dass Niedecken selbst zuvor über Noverre dissertiert hatte und dementsprechend mit dessen Reformbestrebungen und dem Konzept des Bewegungschores vertraut war (Niedecken, 1914).

Schlussüberlegung: Die Problematik des barocken Gesamtkunstwerks

Welleszʼ Konzept des modernisierten barocken Gesamtkunstwerks mutet auf den ersten Blick ungewöhnlich an, da die Existenz eines Gesamtkunstwerks vor 1800 im heutigen Diskurs zumeist angezweifelt wird (Borchmeyer, 2016). Im 17. und 18. Jahrhundert wurde der Terminus weder für die Oper verwendet noch war er in anderer Form geläufig, da er bekanntermaßen erstmals 1827 bei Karl Friedrich Eusebius Trahndorff auftauchte (Borchmeyer, 2016). Daher ist es nicht selbstverständlich, dass Wellesz für seine Reform auf ein barockes Gesamtkunstwerk verweist. Im Gegensatz zum heutigen Usus wurde der Begriff Gesamtkunstwerk jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch häufiger in Verbindung mit der Barockepoche verwendet (Vinzenz, 2018: 28), wie man u. a. bei Hofmannsthal nachlesen kann. Dieser schrieb beispielsweise 1919 in einem Brief an Strauss:

Die Oper ist nun einmal ein Gesamtkunstwerk, nicht etwa seit Wagner, der nur alte Welttendenzen sehr kühn und frech subjektivierte, sondern seit ihrer glorreichen Entstehung: seit dem XVII., und kraft ihrer Grundtendenz: Wiedergeburt des antiken Gesamtkunstwerks zu sein. (Schuh, 1990: 442)

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich derartige Bezüge dagegen nur mehr vereinzelt, so wie beispielsweise noch in Meyers Handbuch über die Musik (1971), wo der Bogen vom Barock bis in die Moderne gespannt wird:

Das ‚Gesamtkunstwerk‘ bezeichnet die ‚erstrebte Formeinheit von dramatischer Dichtung, Musik, Bildkunst und Bewegungskünste (Schauspiel, Tanz) in der Barockoper, in Wagners Musikdramen, auch bei Schönberg u.a.‘ (Schmidt, 2011: 166)

Auch im Musik-Brockhaus (1982) werden ähnliche Parallelen konstatiert und explizit sogar auf die ‚Festspiele der Barockzeit‘ verwiesen, die ‚dem Gedanken Gesamtkunstwerk nahe‘ gekommen seien (Schmidt, 2011: 166). Auch wenn Assoziationen zwischen der Barockmusik und dem Gesamtkunstwerk also gelegentlich auftauchen, wird die Verbindung insbesondere in der musikwissenschaftlichen Literatur der letzten Jahrzehnte kaum ausführlicher diskutiert und noch seltener validiert. So spricht beispielsweise Dieter Borchmeyer Hofmannsthals historischem Verständnis des Gesamtkunstwerks jegliche Legitimität ab und kritisiert insbesondere die Infragestellung von Wagners Vorreiterrolle. Borchmeyer positioniert sich somit deutlich gegen die generelle Möglichkeit eines vorromantischen Gesamtkunstwerks und hält jegliche Bezüge zur Musik vor 1800 für anachronistische Gebilde (Borchmeyer, 1995). Für die meisten Kommentator_innen bleibt der Terminus folglich weiterhin untrennbar mit Wagner verknüpft, wodurch alle übrigen Assoziationsbestrebungen überstrahlt werden.

Es wurde allerdings zu Beginn des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Disziplinen breitflächig über das Gesamtkunstwerk in der Barockepoche diskutiert, so auch in der Kunstgeschichte, die Wellesz auf vielerlei Ebenen nachhaltig beeinflusste (Bujić, 2020: 25–29). Der Terminus Gesamtkunstwerk wurde hier etwa um die Jahrhundertwende auf theoretische Ansätze der Barockepoche übertragen, in der vor allem die Einheit von Architektur, Malerei und Bildhauerei beschrieben wurde (Garberson, 1999: 56). Eric Garberson befasst sich in einer Studie mit der Möglichkeit eines barocken Gesamtkunstwerks in der Kunstgeschichte und lehnt hierin die Auffassung ab, dass es vor 1800 kein Gesamtkunstwerk hätte geben können, da dieses weder im Allgemeinen noch konkret in Bezug auf die bildende Kunst jemals umfassend definiert wurde. Im Zuge einer namentlichen Kritik an u. a. Borchmeyer vertritt Garberson zudem die Meinung, dass das Gesamtkunstwerk ohnehin kein feststehendes Modell darstelle, sondern vielmehr ein flexibles, sich stetig veränderndes Konzept mit selbstständigen Einzelteilen repräsentiere, die noch dazu eine jeweils eigene Entwicklung durchlaufen (Garberson, 1999: 57).

Um sich dem Problem weiter anzunähern, kann man—wie Anke Finger es vorschlägt—zwischen dem Begriff und der Idee des Gesamtkunstwerks differenzieren, da die Entwicklung beider Phänomene nicht zeitgleich zueinander verlief und durchaus divergieren kann: Der Terminus des Gesamtkunstwerks wurde zwar im Laufe des 19. Jahrhunderts geprägt und durch Wagner popularisiert, die Idee dahinter ist jedoch um einiges älter; auch wenn diese immer wieder leicht abgewandelte Formen annahm, bevor sich im Zuge ihrer Verknüpfung mit der neuen Terminologie zeitweise eine straffere Definition entwickelte. In der Moderne wurde dieses straffe Konstrukt jedoch wieder aufgebrochen, sodass sich neue Formen und Ausläufer der Idee bildeten:

Wollte man die Geschichte der Gesamtkunstwerkidee in ein Bild fassen, um diese Verfransung anschaulich zu machen, so müßte man die Form einer Sanduhr oder eines spiegelverkehrten Trichters bemühen, der die multiplen Ideen vor der Begriffsprägung sammelt, sie in dieses nun geschaffene Wort Gesamtkunstwerk filtert, um sie dann im Laufe des späten 19. und bis ins heutige Jahrhundert hinein in weit ausdifferenzierter Form—und nun im Doppelpack: Wort und Idee—wieder auszuschütten. So lassen sich in diesem zweifachen Trichter vor und nach dem 19. Jahrhundert Beispiele finden für das Gesamtkunstwerk als Synästhesie, als Fest, als Oper … (Finger, 2006: 29)

Man ist sich im Allgemeinen einig, dass Beispiele, für die hinter der Idee des Gesamtkunstwerks stehende postulierte Vereinigung der Künste schon weit vor Wagner und Trahndorff auftauchen, so beispielsweise bei Johann Gottfried Herder, Friedrich Wilhelm Schelling oder Friedrich Schiller (Schmidt, 2011: 172). Doch es lassen sich ganz ähnliche Aussagen bereits zur Mitte des 18. Jahrhundert finden, wenn etwa Christian Gottfried Krause (1711–1770) in seiner Schrift Von der musikalischen Poesie (1753) stipulierte, dass ‚alle zu der Oper gehörigen Theile‘ einander dienen und diese ‚alle zusammen für nichts als mit vereinigten Kräften‘ rühren sollten (Krause, 1752: 447). Ebenso ließe sich hier der bereits angesprochene Saggio Algarottis mühelos einreihen. Dass sich dieser mit den einzelnen Elementen der Oper auseinandersetzte und eine erhöhende Wirkung durch deren Vereinigung erhoffte, veranlasste Wellesz, dessen Traktat als eine ‚Forderung des Gesamtkunstwerkes‘ zu betiteln (Wellesz, 1914b: 435). Auch beispielsweise Edward Dent positionierte Algarotti in der ideengeschichtlichen Entwicklung des Gesamtkunstwerks, ging aber auf der Suche nach den Ursprüngen in der Operngeschichte noch weiter zurück:

We have already seen that Wagner’s ideas of a Gesamtkunstwerk had been completely and entirely anticipated by Algarotti; and Algarotti himself was saying practically nothing that had not already been said by Emilio dei Cavalieri and the other originators of opera about 1600. (Dent, 1976: 28)

Dass der Saggio im Allgemeinen jedoch keine Rolle in der Gesamtkunstwerk-Literatur spielt, mag zum einen daran liegen, dass sich die Gesamtkunstwerk-Forschung nicht nur vornehmlich auf das 19. Jahrhundert, sondern insbesondere auch auf den deutschen Sprachraum beschränkt, obwohl sich der Grundgedanke auch zu früheren Zeiten und in anderen Gebieten nachweisen lässt (Finger, 2006: 26). Zum anderen wird auch in der Algarotti-Forschung schnell abgetan, dass es sich hierbei um einen Gesamtkunstwerkgedanken handeln könnte. So spricht beispielsweise Gideon Stiening dem Traktat diesen Ansatz ab, da Algarotti zwar eine Vereinigung aller Künste, nicht aber deren Verschmelzung intendiert habe, denn ‚sie [die Einzelkünste] verlieren mithin in der Oper nicht ihren je eigenen Charakter und können erst dadurch eine Vereinigung ermöglichen‘ (Stiening, 2017: 61).

Im Zusammenhang mit Stienings Schlussfolgerung muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass sein Verständnis der miteinander verschmelzenden Elemente auf einer ganz bestimmten Definition des Gesamtkunstwerks beruht, die in dieser Form bis heute weder in der Theorie noch in der Praxis je fixiert wurde (Schmidt 2011: 163), was zugleich bedeutet, dass man ohne konkrete Grundlage Algarotti den Gesamtkunstwerkgedanken somit auch nicht pauschal absprechen kann.

Wenn an dieser Stelle auch nicht letztgültig beantwortet werden soll, ob es ein barockes Gesamtkunstwerk gab und ob Wellesz’ Vorbilder der großen Wiener Festopern des 17. und 18. Jahrhunderts dieser Kategorie entsprechen, kann dennoch konstatiert werden, dass Welleszʼ Überlegungen keinen völlig isolierten Ansatz darstellen. Er zog seine terminologischen Parallelen auch aufgrund einer regen zeitgenössischen Diskussion, die heute allerdings größtenteils verstummt ist. Letztlich handelt es sich bei Welleszʼ barockem Gesamtkunstwerk dennoch um ein höchst individuell entwickeltes Konzept, das sich auch von den zahlreichen anderen Gesamtkunstwerk-Ansätzen des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger signifikant unterscheidet. Nach Wagner begegnen wir hier einer Vielzahl an divergenten Konzepten, die sich zwar meist deutlich von Wagners Modell absetzen, aber dennoch unter der Gesamtkunstwerk-Kategorie subsummiert werden können. Allen war jedoch die Vorstellung gemein, dass die Zusammenführung der Elemente eine ästhetische Erhöhung des Werkes nach sich ziehe und diese somit bezweckt werden sollte. In der Annäherung an das Gesamtkunstwerk erhofften sich die Künstler_innen also einen ‚Hauch von Verfeinerung‘ (Heister, 2002: 182), und Wellesz ein zeitüberdauerndes Konzept.

Interessenkonflikte

Die Autorin ist Gast-Herausgeberin der Special Collection, war bei ihrem Artikel jedoch nicht am Begutachtungsprozess beteiligt.

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Wellesz, E 1926c Die Oper und diese Zeit. In: Heinsheimer, H W et al 25 Jahre Neue Musik: Jahrbuch 1926 der Universal Edition. Wien: Universal Edition. S. 106–113.

Wellesz, E 1937 Another Aspect of Salzburg: the Background of the Festival. The Times (28 August 1937), S. 8.

Wellesz, E 1940 Opera. In: Colles, C Grove’s Dictionary of Music and Musicians. 4. Aufl. New York: Macmillan 1940. Zusatzband, S. 473–488.

Wellesz, E 1947 Gelebtes Leben. Austria 2(10): S. 368–371.

Wellesz, E 1949 Hofmannsthal und die Musik. In: Fiechtner, H A Hugo von Hofmannsthal: Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde. Wien: Helmut A. Humboldt. S. 227–230.

Wellesz, E 1950 Essays on Opera. London: Dennis Dobson.

Wellesz, E 1961 Die Einrichtung für Musik von Hofmannsthals ‚Alkestis‘. In: Die Neue Rundschau 72: 28–35.

Wellesz, E n. D.a Hat die Oper eine Zukunft?. ÖNB F13.Wellesz.590.

Wellesz, E n. D.b Gluck. ÖNB F13.Wellesz.255.

Wellesz, E n. D.c Moderne Musik. F13/661.

Wilfing-Albrecht, M 2022 Die barocke Oper als modernes Gesamtkunstwerk. Die Opernästhetik von Egon Wellesz. Unpublished thesis (PhD), Universität Wien.